Wie später ihre Kinder - Nicolas Mathieu

Wie später ihre Kinder - Nicolas Mathieu

Nicolas Mathieus Roman "Wie später ihre Kinder" nimmt die LeserIn mit in die französische Provinz der 1990er Jahre. Genauer in die fiktive Stadt Heilange und das umliegende Tal mit mehreren kleineren Ortschaften. Sie alle liegen unweit der Grenze zum reichen Luxemburg, sind jedoch gekennzeichnet durch Industrieruinen und einer zunehmenden Perspektivlosigkeit seiner BewohnerInnen. Die starke phonetische Ähnlichkeit mit Hayange - einer Ortschaft in Lothringen - unweit des Geburtsortes des Autors ist sicher kein Zufall.In diesem Setting wird die Geschichte mehrerer Jugendlicher erzählt. Die Handlung erstreckt sich dabei in 4 Episoden über die Jahre 1992 bis 1998, wobei zwischen einzelnen Episoden jeweils 2 Jahre liegen, deren Ereignisse der LeserIn erst im Laufe des Lesens durch Rückblenden offenbart werden.

Alles beginnt mit einem geklauten Motorrad. Antoine, ein pubertärer Jugendlicher, hatte es unerlaubt aus der Garage seines Vaters geholt, um damit ins Nachbardorf zu einer Party fahren. Dort hofft er, seinem Schwarm Steph - der Tochter eines Arztes - näher zu kommen. Seine "Einladung" ist der Tatsache zu verdanken, dass er den reicheren Kids dort Gras zu verkaufen kann. Der Vater, ein ehemaliger Stahlarbeiter der nun zur Ruine gewordenen Fabrik, sitzt mit Freunden einer Veranda der bescheidenen Eigenheimsiedlung. Jedoch bemerkt er es nicht, wie sein Sohn das Motorrad aus der Garage holt. Zurückbringen kann er es jedoch nicht, da Hacine - Sohn eines marokkanischen Arbeiters aus den benachbarten Wohnblocks - es klaut. In Panik vor der Strafe seines Vaters erzählt Antoine seiner Mutter von dem verschwundenen Motorrad, welche mit ihm gemeinsam zu der Hochhauswohnung Hacines fährt, jedoch nur dessen Vater antrifft. Beide wissen zu diesem Zeitpunkt nicht, dass die beiden Väter einst gemeinsam am Hochofen gearbeitet haben. Eventuell hätte sich das Problem vor diesem Hintergrund aus der Welt schaffen können, dann wäre es jedoch bei einer Kurzgeschichte geblieben. So wartet Hacines Vater auf seinen Sohn, um ihn zur Strafe zu verprügeln, der dadurch gedemütigte Sohn wiederum fährt das Motorrad zurück zum Haus von Antoines Familie und zündet es aus Rache an. Es beginnt eine Spirale der Eskalation, das brennende Motorrad zerstört die brüchige Familie Antoines, die Mutter verlässt den trinkenden Vater und das Haus wird verkauft. Hacine wird von seinem Vater zur Strafe nach Marokko geschickt, um dort von der Familie erzogen zu werden. Doch er kommt keineswegs geläutert zurück, sondern als Drogenkurier. Durch die Zeit in Marokko hat er nun Zugang zur Quelle des Stoffes und kennt Sprache und Vertriebswege in Frankreich. Das damit verdiente Geld soll ihm den Weg aus der Hochhaussiedlung ermöglichen.[nbsp]Alle Jugendlichen wollen in irgendeiner Form ihrer Herkunft entkommen. Sei es aus der Provinz allgemein wie Steph und ihre Freundin Clem, die zum Studium in die Stadt möchten. Antoine, der vom gewaltsamen, perspektivlosen und alkoholgeprägten Alltag seiner Eltern entkommen will oder eben Hacine, der die kleine Wohnung der Hochhaussiedlung hinter sich lassen möchte.

Die zahlreichen und präzisen Milieubeschreibungen sind dabei die große Stärke des Romans. Da gibt es durch die Insolvenz des Stahlwerkes arbeitslos gewordene Elterngeneration aus ehemaligen IndustriearbeiterInnen, die sich nun mit Gelegenheitsjobs über Wasser hält. Deren Kinder wollen nur schnell eigenes Geld verdienen und verlassen die Schule unmittelbar mit dem Ende der Schulpflicht. Doch schnell ereilt sie die Erkenntnis, dass schlecht bezahlte Zeitarbeitsjobs mit ihren "lächerlichen Summen kein Anfang waren, sondern der Normalfall [...]. Da fing man an, in Einkaufswagen zu rechnen oder die verschiedenen Hausratversicherungen zu vergleichen, die Kosten für einen Urlaub auf den Balearen. Das Leben wurde zu einer Folge von Berechnungen, kleinen Beschneidungen, schmerzlosen Entbehrungen, die durch immer weniger befriedigende Freuden ausgeglichen wurden."[nbsp]Doch auch die vermögenderen Kinder, welche an den Gymnasien fürs Studium vorbereitet werden, führen kein erfülltes Leben. So haben die Eltern von Clem - die beste Freundin von Antoines Schwarm Steph - zwar durch ihr Autohaus durchaus viel ökonomisches Kapital zur Verfügung, sind aber genauso an die Provinz gefesselt wie alle anderen. Denn "[e]s reichte nicht, Luxusschlitten zu verkaufen und alle reichen Leute der Stadt zu kennen, um es geschafft zu haben. Eigentlich war ihr Horizont der von Kleinverdienern, die dauernd nach oben blickten. Ihre Behaglichkeit hing an einem dünnen Faden. Ihre Eltern hielten sich für Fürsten, aber sie waren nur klägliche Statthalter eines Reichs, das woanders regiert wurde". Es gelingt am Ende kaum einer der Figuren des Romanes ihrem milieuspezifisches Schicksal zu entgehen.

In der immer zahlreicher werdenden Literatur zu Arbeiterkindern werden oft die kleinen Zufälle beschrieben, die über einen Milieuwechsel entscheiden. Wobei stets betont wird, dass es nur in Ausnahmefällen gelingt. In den Büchern von Didier Eribon, Édouard Louis, Christian Baron oder auch Deniz Ohde werden die Strukturen beschrieben, die zu diesem Beharrungsvermögen der Klassengesellschaft führen. Nun sind die alle dem Paradox unterworfen, das sie auf der einen Seite beschreiben, wie schwierig ein Klassenaufstieg ist, auf der anderen Seite aber selber bezeugen, das er durchaus möglich ist. Die Verharrenden, deren Aufstieg oder Milieuwechsel nicht klappt, haben kaum eine Stimme. Ebenjene werden in "Wie später ihre Kinder" beschrieben. Die in den Industrieruinen Zurückgebliebenen... Dabei leistet sich Nicolas Mathieu eigentlich nur eine Schwäche; während die männlichen Charaktere sich im Laufe der Handlung weiterentwickeln, bleiben die meisten weiblichen Charaktere eindimensional. Sie sind zu sehr Nebencharaktere und frei von eigenen Handlungsmotiven. Der Blick des allwissenden Erzählers reicht oft nicht in die Gedankenwelt der Frauen. Der Roman ist trotz dieses Makels sehr lesenswert.

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